Der Artikel ist in der Zeitung des Verbandes „Selbsthilfe-Auto Aiuto“ Nr. 3/2017 erschienen. Autorin: Barbara Morandell. Sie arbeitet als Beraterin beim „Stützpunkt“ des Verbandes Ariadne. Sie berät und begleitet Angehörige psychisch erkrankter Menschen, die hier unbürokratisch und rasch Unterstützung finden.

Die psychische Erkrankung eines Menschen beeinflusst sein gesamtes Umfeld. Alle leiden irgendwie mit. Und doch kommen in meine Beratungen vorwiegend Frauen. Es sind die Mütter, die Schwestern oder die Töchter, die sich sofort schützend vor den Erkrankten/die Erkrankte stellen, sich für ihn/sie einsetzen, für ihn/sie kämpfen, die helfen, trösten, Verantwortung abnehmen und alles dafür tun, um eine Besserung herbeizuführen und einen neuerlichen Rückfall zu vermeiden. Sie stellen ihre Bedürfnisse zurück und die des erkrankten Menschen in den Mittelpunkt. Sie haben häufig Schuldgefühle und auch Angst vor der Zukunft. Besonders schwierig wird es, wenn sie sich zum Ziel setzen, den/die andere/n zur Krankheitseinsicht zu bringen, denn dann wird die Helferin zwangsläufig als Gegnerin erlebt, und das Helfen-Wollen wird zum ständigen Kampf: Auf Bitten und Drohungen folgen Enttäuschungen, Kränkungen, Ohnmachtsgefühle. Diese Kämpfe zehren immens. Die Angehörigen sind erschöpft, verlieren die Hoffnung auf Besserung, haben leise Aggressionen gegenüber dem erkrankten Menschen und resignieren. Möglicherweise ziehen sie sich zurück, leiden unter psychosomatischen Symptomen wie Kopf- oder Rückenschmerzen, Verspannungen, Schlafstörungen, Herzbeschwerden oder entwickeln selbst eine Depression. Doch soweit muss es nicht kommen! Es gibt Auswege aus dieser Spirale.

Die Erkrankung akzeptieren
Hier setze ich in den Beratungen an und begleite die Ratsuchenden darin, die Erkrankung als gegeben und nicht als vorübergehenden Spuk zu akzeptieren. Diese Akzeptanz hilft, sich von Hoffnungen und Illusionen zu verabschieden und auch die eigenen Bemühungen, noch bessere Ärzt/innen, Therapeut/innen oder Heiler/innen aufzutreiben, einzustellen. Diese Akzeptanz führt auch zu einem veränderten Blick auf den erkrankten Menschen, der in einer akuten Phase zwar dringend Hilfe benötigt, aber in Zwischenphasen durchaus über gesunde Anteile verfügt und selbstverantwortlich sein Leben wieder gestalten kann und soll. Nach der Akzeptanz der Erkrankung schauen wir uns die Schuldgefühle an und versuchen diese zu überwinden, denn häufig gibt es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Angehörigen und der Erkrankung. Schuldgefühle sind natürlich auch Ausdruck von Liebe zum erkrankten Menschen, von einer starken Bindung, von einem Gefühl etwas bewegen zu können in all der Ohnmacht, jedoch belasten sie sehr. Jede/r von uns hat in der Vergangenheit Fehler gemacht, viele davon unbewusst. Doch weder Selbstvorwürfe noch Schuldeingeständnisse können die Situation, das Leid lindern.

 

Ängste benennen
Ich unterstütze die Angehörigen darin, ihre Ängste vor der Zukunft, vor einem Rückfall, vor einer Weitervererbung an- und auszusprechen, sie zu benennen, damit sie ein Gesicht bekommen und ihre unheimlich destruktive Kraft verlieren. Ausgesprochenen Ängsten kann ich nämlich begegnen, sie einer Realitätsüberprüfung unterziehen, mich ihnen stellen, proaktiv dagegen steuern, grübelnde Gedanken stoppen und ein Helfernetz aktivieren. Hier ist es oft noch notwendig, die Angehörigen dazu zu ermutigen, mit anderen in einem geschützten Rahmen zu sprechen, sich zu öffnen ohne Angst dadurch den erkrankten Angehörigen bloßzustellen oder öffentlich zu schikanieren. Zu oft haben sie bisher versucht, das intakte Bild aufrechtzuhalten, die Erkrankung zu leugnen oder zu rechtfertigen. Der Austausch mit guten Freund/innen oder ähnlich Betroffenen verschafft Erleichterung und Entlastung und kann ebenso dazu beitragen, sich selber und die eigenen Bedürfnisse wieder wichtig zu nehmen.

 

Eigene Interessen wahrnehmen
Wer zulange seine eigenen Interessen vernachlässigt, sich nur mehr auf die Befindlichkeit des erkrankten Familienmitgliedes konzentriert hat, wer zulange bemüht war zu helfen, ist selber hilflos und freudlos geworden. So ist es mir ein großes Anliegen, die Ratsuchenden dahin zu begleiten, dass sie beginnen, wieder mehr auf sich zu achten, auf ihre Wünsche nach Pause oder Abstand, auf ihre Lust auf eine freudvolleres, erfülltes Leben. Natürlich soll oder kann der/die Betroffene darin Platz haben, aber nicht mehr in dem bisherigen Ausmaß. Es kommt zu einer klaren Abgrenzung: „Ich bin nicht du, du bist nicht ich. Ich trage Verantwortung für mich, du trägst Verantwortung für dich. Ich gebe dir die Verantwortung für deinen Lebensentwurf zurück. Ich sehe in dir nicht mehr einen Teil meines Selbsts, für den ich verantwortlich bin“. Sie lernen zu helfen durch Nicht-Helfen. Nicht-Helfen ist jedoch nicht Nichts-Tun, es erfordert viel Mut, Kraft und Konsequenz. Es ist der Versuch Voraussetzungen zu schaffen, dass der Erkrankte die Realität wahrzunehmen beginnt, die Konsequenzen der Erkrankung trägt, sich dazu entscheidet, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und seinen Weg zu finden, mit der Erkrankung so umzugehen, dass ein lebenswertes Leben für ihn/sie und alle Beteiligten möglich wird.

 

Verantwortung abgeben
Wenn Angehörige große Schwierigkeiten haben oder gar Widerstand  sich meldet, die Aufgaben oder die Verantwortung an den/die Betroffene/n zurückzugeben und ihn/sie die Anforderungen des Lebens wieder spüren zu lassen, kann es hilfreich sein, einen Blick in das Familiensystem der Ursprungsfamilie zu werfen. Oft wurde co-abhängiges Verhalten schon früh erlernt. Wenn wir erkennen, welche Umstände, Werte und Haltungen uns zu selbstlosen Helfer/innen gemacht haben, können wir uns besser verstehen und uns entscheiden, ob dieses Verhalten noch notwendig ist oder ob wir etwas verändern wollen. Nicht zu Letzt ist es wichtig, dass ich die Angehörigen aufkläre, wieviel Geduld sie aufbringen müssen, denn psychische Veränderungen auf beiden Seiten brauchen viel Zeit, es wird Rückschläge geben, wo sie in alte Muster zurückfallen und es wird ihnen viel Konsequenz abverlangt, auf dem einmal beschrittenen Weg zu bleiben und nicht aufzugeben. Doch dafür bin ich da: sie darin zu bestärken, weiterzumachen.

 

Ein Nein aus Liebe
Immer dann spreche ich von Beratungserfolgen, wenn ich sehe wie sich die Anliegen, der Auftrag an mich ändert: Ging es in den ersten Beratungen noch ausschließlich um die Nöte und das Leid des erkrankten Familienmitgliedes, so verschafften sich zunehmend eigene Bedürfnisse Platz, und den Schuld- und Angstgefühlen zum Trotz konnte dem Leben ein neuer Sinn, Inhalt und wieder Freude abgerungen werden. Ja, es gibt Angehörige, die nicht mehr bereit sind, ihr Leben für den/die Betroffene/n zu opfern, die da sind, unterstützend und helfend, aber mit der notwendigen Distanz und einer neugewonnenen Freiheit. Ich erinnere mich an eine Aussage von Primar Andreas Conca, die mich persönlich sehr berührte: „Oft ist es ein Nein aus Liebe, das dem Erkrankten wirklich weiterhilft.“