Der Artikel ist in der Zeitung des Verbandes „Selbsthilfe-Auto Aiuto“ Nr. 2/2016 erschienen. Autor: Ettore Favaretto, Psychiater und Psychotherapeut im Psychiatrischen Dienst Brixen.

„In der Nacht sprang Robert plötzlich auf und schrieb in kürzester Zeit eine Melodie, die ihm, wie er sagte, die Engel vorgesungen hatten. Danach legte er sich wieder zu Bett und sprach wie im Wahn die ganze Nacht hindurch. Am Morgen hatten sich die Engel in Teufel verwandelt, die eine horrende Musik sangen und ihn beschuldigten, ein Sünder zu sein und ihm drohten, ihn in die Tiefen der Hölle zu werfen.”

So beschreibt Clara Schumann in ihrem Tagebuch das Verhalten ihres Mannes Robert im Jahr 1854. Wenige Monate später wird der deutsche Komponist nach einem Selbstmordversuch im Irrenhaus von Endenich in der Nähe von Bonn interniert, wo er 1856 stirbt.

Wie 2 % der Weltbevölkerung litt auch Robert Schumann an einer bipolaren Störung, einer Krankheit, die von wechselnden Phasen euphorischer, gehobener und gereizter Stimmung und Augenblicken tiefster Depression gekennzeichnet ist. Je nach Schwere unterscheidet man Hypomanie, Manie und Depression.

Wenn die Stimmung ansteigt, haben die Menschen mehr Energie als sonst und schlafen weniger, ohne sich müde zu fühlen. Dieser Anstieg des Lebensantriebs führt dazu, dass sie in allen Alltagstätigkeiten aktiver sind, ihre Produktionsfähigkeit und Kreativität steigen. Auch bei Schumann hat sich gezeigt, dass der Großteil seiner Musikstücke während eines gesteigerten Antriebs entstanden ist. Aktiver und produktiver zu sein, wird von den Betroffenen als angenehm und der eigenen Persönlichkeit entsprechend  empfunden. Meistens sind es die Mitmenschen, die bemerken, dass die Verhaltensweisen unüblich und übertrieben sind. Mit der Zeit entartet die Hyperaktivität in ein chaotisches und unorganisiertes Tun; der/die Betroffene tendiert dazu, seine eigenen Fähigkeiten zu über- und die Risiken zu unterschätzen.

Das führt zu einer zunehmenden Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit, da man Situationen falsch einschätzt, sich unerreichbare Ziele setzt oder sich stark verschuldet. Die Verringerung der Urteilsfähigkeit – in schweren Fällen ihr absoluter Verlust – und ein typisches ungehemmtes Verhalten verleiten Patient/innen zu Übertreibungen in Spiel und Gesellschaft: maßloser Konsum von Alkohol und Drogen oder risikoreiches Verhalten z. B. beim Sex, im Straßenverkehr oder im Umgang mit Geld. Eine extreme Gereiztheit kann zu einem aggressiven Verhalten führen, so dass die Menschen streitsüchtig und gewalttätig werden und somit oft mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Während die Patient/innen in den depressiven Phasen leiden, ist das in den (hypo-)manischen Phasen kaum der Fall. Am meisten beeinträchtigen diese jene Menschen, die den Patient/innen nahestehen.

Wenn sich die bisher beschriebenen Anzeichen noch mit der Arbeit oder der Gesellschaft vereinen lassen, spricht man von „Hypomanie”. Bei abwechselnden Phasen von Hypomanie und Depression spricht man von bipolarer Störung Typ II. Sobald eine Beeinträchtigung des Alltagslebens auftritt oder die Schwere der Symptome zu einem stationären Aufenthalt führen, spricht man von Manie und bipolarer Störung Typ I. Ein weiterer typischer Unterschied zur Hypomanie ist das Auftreten von Wahnvorstellungen oder Halluzinationen, meistens Größenwahn, religiöser Wahn oder Machtgier. Der Mensch kann sich z. B. einbilden, ganz besondere Gaben oder Eingebungen zu haben, ein berühmter Mensch zu sein oder – wie bei Robert Schumann – mystische oder religiöse Wahnvorstellungen zu haben.

In der depressiven Phase zeigt der Patient/die Patientin Schwermut; es fehlen der Antrieb, die Lebenslust und die Lebensfreude. Es zeigen sich ein reduziertes Selbstwertgefühl, Pessimismus und Schuldgefühle treten auf, auch Wahnvorstellungen kommen vor. Der Appetit kann verringert oder erhöht sein; Kohlenhydrate und Süßigkeiten werden vermehrt konsumiert. Auch der Schlafrhythmus kann gestört sein, was sich vor allem in den frühen Morgenstunden bemerkbar macht; morgens kommen die Betroffenen kaum auf die Beine. Andererseits kann es dann auch zu starker Müdigkeit und einem starken Schlafbedürfnis tagsüber kommen.

Natürlich führen fehlende Energie und die beeinträchtigte Stimmung zu einer reduzierten Aktivität; die Patient/innen ziehen sich von der Gesellschaft zurück und verringern ihre Aktivitäten. Oft zeigen sich auch körperliche Symptome oder Schmerzen. Auch die Aufmerksamkeit, die Konzentration, das Gedächtnis und das logische Denken können beeinträchtigt sein. In einer schweren Depression kann die Urteilsfähigkeit so stark gestört sein, dass die Realität nicht mehr richtig eingeschätzt wird. Und gerade die Tatsache, dass das eigene Leben nicht mehr gemeistert werden kann, bereitet – wie bei Schumann – den Weg zu jenem Gefühl von Unfähigkeit und Verzweiflung, das zu einem „suizidalen Verhalten” führen kann. Der Suizid ist die häufigste Todesursache bei einer bipolaren Störung; laut Studien betrifft es 15 bis 27 %, wobei Männer klar überwiegen. Noch weit häufiger (4-5 mal) sind Suizidversuche – und hier sind es überwiegend Frauen.

Es gibt noch eine weitere, wenig bekannte Form, die als „Mischzustand” bezeichnet wird. Sie kann als einzelne Krankheitsepisode auftreten oder als Übergang zwischen einer Phase und der anderen. Bei dieser sind depressive und (hypo-)manische Symptome gleichzeitig vorhanden, dazu eine extrem instabile Stimmung mit sehr raschen Wechseln innerhalb von wenigen Stunden von der Depression zur Manie oder umgekehrt. Auf Grund dieser massiven Instabilität kann der/die Betroffene besonders reizbar sein und damit sehr schnell ein suizidales Verhalten oder psychotische Symptome zeigen. Deshalb muss bei solchen Patient/innen besonders Acht gegeben werden und oft ist eine stationäre Aufnahme nötig, um den selbstverletzenden Verhaltensweisen zuvorzukommen.

Typisch für die Störung sind dauernde Schwankungen zwischen (hypo-)manischen, gemischten und depressiven Phasen sowie eine Zunahme ihrer Häufigkeit. Außerdem entwickelt sich eine Tendenz zu immer kürzeren „gesunden” Intervallen. Epidemiologische Studien zeigen auf, dass bipolare Patient/innen im Durchschnitt acht oder mehr Phasen in ihrem Leben durchmachen.

(Hypo-)manische Phasen tendieren zu einem kürzeren Verlauf (meist Tage oder Wochen), depressive Phasen hingegen überwiegen meistens (bis zu 30-50 % der Zeit). Sie zeigen sich – wie die Suizidtendenz – ziemlich plötzlich, vor allem im Frühjahr/Beginn des Sommers und etwas seltener im Herbst. Wenn wir zu Robert Schumann zurückkehren, so litt er unter mindestens drei schweren depressiven Episoden, die immer stärker wurden. Die letzte dauerte über zwei Jahre und führte zum selbstgewählten Tod durch Nahrungsverweigerung.

 

Vorbeugung und Behandlung
Was kann man tun, um einer bipolaren Störung vorzubeugen und sie zu behandeln? Die Behandlung der Störung beruht auf drei Grundlagen: medikamentöse Therapie, Psychoedukation und Psychotherapie. Die pharmakologische Stabilisierung des Patienten/der Patientin ist unabdingbar und hat, vor allem bei den schweren Formen, Vorrang vor den beiden anderen Behandlungsmöglichkeiten .

Medikamentöse Behandlung
Das Grundkonzept der medikamentösen Therapie beruht auf der Annahme, dass Manie und Depression ein zyklisches Geschehen sind. Deshalb muss die gesamte Stimmungslage stabilisiert werden. Da die (Hypo-) Manie der Motor der Störung ist, muss man den „Über-Schwung-Phasen” zuvorkommen, um den depressiven Phasen vorzubeugen.

Medikamentös unterscheidet man die Akuttherapie von der Erhaltungstherapie. In einer akuten manischen Phase verwendet man antipsychotische und stimmungsausgleichende Substanzen allein oder in Kombination. Bei schweren Formen mit psychotischen Zeichen und Aggressivität kann es mehrere Wochen dauern bis sich die Symptome legen. Oft ist auch eine stationärer Aufenthalt notwendig.

Bei der Therapie einer depressiven Phase müssen mehrere Faktoren berücksichtigt werden: Sie ist Teil des natürlichen Ablaufs der Störung und kann vor oder nach einer „Hochphase” auftreten. Da sie viel länger dauert als eine manische Phase, leidet der Patient/die Patientin weit mehr darunter. Gerade in diesen Phasen besteht ein hohes Suizidrisiko. Während bei der „unipolaren” Depression (also nur depressive Phase) Antidepressiva laut Richtlinien sowohl für akute Phasen als auch für die Vorbeugung verwendet werden, muss man bei „bipolaren” Störungen Vorsicht walten lassen. Bipolare Patient/innen neigen zu „Hochstimmung”; so könnten diese Medikamente neue „Hoch-Phasen” oder gemischte Phasen hervorrufen und damit auf Dauer wieder neue depressive Phasen auslösen. Diese wiederum würden das Suizidrisiko steigern. Deshalb bevorzugt man Medikamente mit „indirekter” Wirkung wie Lamotrigin oder Quetiapin. Wenn man sich zu einem Antidepressivum entschließt, dann möglichst nur für kurze Zeit und immer in Kombination mit Stimmungsstabilisatoren.

Wenn der Patient/die Patientin nach einer akuten Episode stabilisiert ist, geht man nach etwa drei Monaten für ungefähr ein Jahr zu einer Erhaltungstherapie über. Sie soll einen Rückfall und damit neue Episoden verhindern. Die medikamentöse Therapie ist lebenslang angezeigt nach der dritten Episode oder auch nach der ersten, wenn diese besonders stark, mit psychotischen Symptomen oder aggressivem Verhalten gegen sich oder andere verlaufen ist.

Wenn die manischen Phasen überwiegen, können zur Vorbeugung Antipsychotika oder stimmungsstabilisierende Medikamente verabreicht werden (Lithiumsalze, Valproinsäure, Carbamazepin), die auch in der akuten Phase verwendet werden. Das Lithium scheint am wirksamsten zu sein, da es gegen die Manie, die Depression sowie als Prophylaktikum und vor allem auch „anti-suizidal” wirkt. Überwiegen die depressiven Phasen, wird neben Lithium eventuell auch Lamotrigin oder Quetiapin verwendet.

 Psychoedukation
Die Psychoedukation (einzeln oder in der Gruppe) soll das Wissen über die Störung bei den Patient/innen und den Angehörigen verbessern. Sie soll aktuelle wissenschaftliche Informationen zu Diagnose, Behandlungsmöglichkeiten und Lebensstil liefern, um neue Episoden zu vermeiden. Besondere Aufmerksamkeit wird darauf gelegt, mit Stress umgehen zu lernen, Alkohol und Drogen absolut zu vermeiden und den Schlaf-Wach-Rhythmus zu regulieren. Anhand des Krankheitsverlaufs wird nach Frühwarnzeichen gesucht, um neuen Krisen vorzubeugen. Schließlich wird der Umgang mit akuten Krisen geübt. Psychoedukation soll neben der medikamentösen Therapie eingesetzt werden, sobald der Patient/die Patientin die Informationen aufnehmen und verstehen kann. Auch die Miteinbeziehung der Angehörigen sollte so rasch wie möglich erfolgen, damit diese mehr Informationen über die Krankheit erhalten und – sofern der Patient/die Patientin sich seiner/ihrer Störung kaum bewusst ist – die Therapie besser gewährleisten und bei Krisen rechtzeitig eingreifen zu können.

Psychotherapie

Auch die Psychotherapie ist für Patient/innen und Angehörige eine wichtige Maßnahme während der depressiven Phasen und als Erhaltungstherapie. Auch wenn sich mehrere Zugänge als wirksam erwiesen haben, ist die kognitive Verhaltenstherapie das bekannteste Modell. Auch sie ist zusätzlich anzubieten, sobald sich das klinische Bild stabilisiert hat.