Verantwortung – mein Weg in kleinen Schritten
Der Artikel, geschrieben von Dagmar, ist in der Zeitung des Verbandes „Selbsthilfe-Auto Aiuto“ Nr. 1/2016 erschienen.

Zu Beginn der Erkrankung stehen viele Fragen – warum gerade meine Tochter… was habe ich falsch gemacht… bin ich schuld an ihrem Schicksal?

Was tun jetzt? Unsere Tochter wird wieder bei uns wohnen, ich muss für sie da sein, wenn sie zurück kommt. Ich darf nicht nein sagen. Sonst schafft sie es nicht… ich muss dafür sorgen, dass sie die Medikamente nimmt und regelmäßig zum Psychiater und Psychologen geht. Ich muss ihr helfen, schnell wieder gesund zu werden.

Wer sagt mir, was ich tun soll? Ich fühle mich im ständigen Widerstreit der Gefühle, denn ich habe sie auf die psychiatrische Abteilung gebracht. War das richtig? Ich besuche sie täglich im Krankenhaus, gehe mit ihr spazieren, rede mit ihr – obwohl ich spüre, dass ich oft nicht mehr kann. Ich fühle mich erschöpft.

Alles kreist um meine erwachsene Tochter, die plötzlich, innerhalb kürzester Zeit nicht mehr selbständig und selbstbestimmt ihr Leben weiter führen kann. Und immer wieder die Frage: Was habe ich falsch gemacht? Haben wir erste Anzeichen übersehen, zu wenig ernst genommen? Ich habe große Angst um meine Tochter – diese Angst macht mich sprachlos und ich fühle mich wie versteinert: sie ist ständig präsent – bei jedem meiner Schritte, begleitet mich zur Arbeit, durch den Tag, lässt mich nicht schlafen – die Sorge, sie könnte wieder versuchen, sich etwas anzutun. Ich muss versuchen, sie vor sich selbst zu beschützen, ich darf sie nicht alleine lassen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn…

Ich möchte ihr helfen, aber wie? Wir machen Vorschläge, geben weiter, was uns die Ärzte und Therapeuten empfehlen. Ich habe den Eindruck, es dringt nichts bis zu ihr durch. Sie wirkt so teilnahmslos und lässt alles mit sich geschehen: anziehen, essen, spazieren gehen… Ich möchte doch nur, dass es endlich aufwärts geht, denn nichts bewegt sich – alles stagniert. Oft fühle ich mich alleine gelassen. Was passiert, wenn ich es nicht schaffe, bin ich dann eine schlechte Mutter?

Dann kommt der Tag, wo ich tief in mir spüre, dass es so nicht weiter gehen kann. Ich fühle mich am Ende meiner Kräfte und habe eine Riesenwut im Bauch. Möchte sie hinausschreien – aber ich kann nicht: ich muss freundlich sein und funktionieren. Zeitweise empfinde ich unsere Situation als unerträglich. Es gibt Streit, manchmal eskalieren die Situationen; oft weine ich innerlich und manchmal kann ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Bin ich zu egoistisch, weil ich auch an mich denke? Eine Pause brauche?

Endlich kommt Bewegung in mich. Ich besuche Vorträge und beginne Bücher zum Thema zu lesen: Ich merke, wie ich all die Informationen aufsauge, das Wissen um die Krankheit hilft mir. Und das Wichtigste: Ich suche psychologische Unterstützung für mich.

Ein weiterer wichtiger Schritt folgt: Ich lerne die Krankheit anzunehmen. Lichtblicke sind der regelmäßige Austausch in der Selbsthilfegruppe, dort spüre ich Verständnis und Dankbarkeit kommt auf – ich lerne Gelassenheit und Geduld, im Umgang mit meiner Tochter und mit mir selbst.

Ich beginne in kleinen Schritten bei mir etwas zu verändern: Ich lerne, mich zurückzunehmen und Verantwortung zurückzugeben. Ich erkenne, dass es Grenzen gibt und versuche zu verstehen. Ich kann nur begleitend und unterstützend für meine Tochter da sein. Meine Tochter hat das Recht, auf ihrem Genesungsweg eigene Entscheidungen zu treffen. Ich bin da, wenn sie mich braucht. Ich vertraue ihr und traue ihr Vieles zu. Ich unterstütze, wo sie möchte. Wir schauen nach vorne.

Ich lerne, meine eigene Belastbarkeit und Kraft im Auge zu behalten. Ein Bild begleitet mich: Am Horizont ein heller Streifen.

 

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