Der Text stammt aus der Informationsbroschüre „Psychische Gesundheit – was ist das?“, Seite 23 bis 27, herausgegeben im Jahr 2009 von der Autonomen Provinz Bozen, Amt für Gesundheitssprengel (2. überarbeitete Auflage).

Zappelphilippe und Tagträumer
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist keine Modeerscheinung unserer unruhigen oder eventuell sogar kinderfeindlichen Zeit. Bereits aus dem 19. Jahrhundert liegen Berichte über ADHS vor. Eine anschauliche Beschreibung eines hyperaktiven Kindes liefert der Nervenarzt Heinrich Hoffmann (1844) in seinem berühmten Kinderbuch „Der Struwwelpeter“, in dem er den „Zappelphilipp“ beschreibt. ADHS-Kinder werden auch heute noch als Unruhegeister, Störenfriede, Schulversager, Außenseiter, Faulpelze oder als ungehorsame Flegel verkannt. Der Zappelphilipp hätte Hilfe anstatt Strafe benötigt.

ADHS-Kinder haben Schwierigkeiten in allen Lebensbereichen
Hyperkinetisches Syndrom, Aufmerksamkeits-Defizit-Störung oder Hyperaktivitäts-Störung sind verschiedene Namen für dieselbe Störung. Die betroffenen Kinder haben viele Probleme, weil ihre Teilnahme am Familienleben, Schulleben oder an anderen sozialen Beziehungen beeinträchtigt ist. ADHS-Kinder können sich nur schwer konzentrieren, stören oft den Unterricht oder verlieren häufig ihre Beherrschung. Aufgrund ihrer ständigen Überaktivität, Ruhelosigkeit, Ablenkbarkeit und auch Aggressivität sind ADHS-Kinder für ihre Umwelt oft unerträglich (ein richtiger Zappelphilipp).

Dass es auch Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen gibt, die als hypoaktiv, also zu ruhig und tagverträumt auffallen, wurde erst in letzter Zeit bekannt (ein richtiger Hans guck in die Luft).

ADHS-Kinder verbreiten Chaos – wo immer sie sich aufhalten. Eltern, Lehrer oder Erzieher klagen über eine kaum zu ertragende Unruhe und Aktivität dieser Kinder, sowie über aggressives, vorlautes oder aufsässiges Verhalten mit Wutausbrüchen. Oft sind die Kinder extrem unordentlich, hören nicht zu oder vertragen keine Kritik. Ihre Schrift ist „eine Katastrophe“. Sie reden ständig dazwischen und sind pausenlos auf vermeintlich interessante Dinge ansprechbar. Sie wirken vergesslich, abgelenkt und impulsiv. Sie haben Schwierigkeiten, Freundschaften aufzubauen und zu pflegen. Ihr Umgang mit der „Welt“ ist oberflächlich, sprunghaft, mit hohen Fehlerraten gerade bei Aufgaben, die Konzentration erfordern. Andere ADHS-Kinder wiederum fallen mehr durch ihre übermäßige Ruhe und Verträumtheit auf, durch Ängstlichkeit, Weinerlichkeit oder durch provokantes Trödelverhalten. Kommen dann noch Leistungsschwierigkeiten in der Schule dazu, besteht der Verdacht auf eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

ADHS ist eine häufige kinderpsychiatrische Störung
Die Störung betrifft etwa 4 Prozent aller Kinder, dabei sind Buben um ein Mehrfaches häufiger betroffen als Mädchen. Das Problem wird im Kindergarten oft bereits vermutet und tritt zumeist mit Schulbeginn richtig in Erscheinung. Der Schweregrad kann sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Manche Jugendliche und Erwachsene leiden später noch an den Folgeproblemen ihrer erschwerten sozialen Entwicklung (Schulabschluss) und ihrer behinderten persönlichen Entfaltung.

Anderseits sind ehemalige ADHS-Kinder im Erwachsenenalter manchmal „zündende Funken“ unserer Gesellschaft, die aufrütteln, etwas bewegen und umwälzende Veränderungen bewirken.

Ursachen und Folgen
Eine eindeutige Ursache der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist noch nicht ermittelt worden. Erbfaktoren werden angenommen. ADHS-Kinder haben häufig ADHS-belastete Geschwister, Eltern oder andere Verwandte; Buben sind bis zu 9-mal häufiger betroffen als Mädchen. Die Veranlagung, unruhig, unkonzentriert, impulsiv, ablenkbar oder leicht erregbar zu sein, steht offenbar im Zusammenhang mit einer gestörten Reifung von Hirnfunktionen, die die Steuerung von Aufmerksamkeit und Bewegung bestimmen. Die Störung erklärt man sich mit einer gewissen „Filterschwäche“ des Gehirns. ADHS-Kinder können schlecht unterscheiden, welche Wahrnehmungen gerade wichtig sind, und welche nicht.

Auch Schädigungen durch Nikotin und Alkohol während der Schwangerschaft scheinen bei einem Teil der betroffenen Kinder eine Rolle zu spielen. Ebenso können bestimmte Schwermetallbelastungen, Medikamente, Schilddrüsenerkrankungen, Hirnschädigungen, sowie seelische Auslöser ein ADHS-ähnliches Bild hervorrufen. Auch werden Nahrungsmittelallergien immer wieder als Ursachen verantwortlich gemacht. Das Kind mit ADHS benötigt Verständnis und Hilfe.

ADHS führt ohne Behandlung zu unerträglichem Leid in den betroffenen Familien. Die betroffenen Kinder stecken laufend viel Kritik, Ermahnungen und Rügen ein. Durch ständiges Bitten, durch Drohungen und Strafen werden die Verhaltensauffälligkeiten von ADHS-Kindern nicht gebessert. Vielmehr erkennen die Kinder, dass sie ihre Lage nicht verbessern können, auch wenn sie sich anstrengen. Die Folge ist, dass sie immer trotziger, aggressiver oder auch depressiv werden, bis zur totalen Leistungsverweigerung.

ADHS-Kinder haben das Recht auf angemessene Behandlung
Immer wieder werden Eltern mit dem Vorwurf konfrontiert, in der Erziehung versagt zu haben. Ein ADHS-Kind zu haben ist vor allem für die Mütter eine große seelische Belastung. Oft stellen sie selbst in Frage, ob sie zum Erziehen der Kinder fähig sind. Viele Mütter entwickeln ausgeprägte Schuldgefühle, oder ziehen sich zurück, weil sie sich wegen ihrer Kinder nicht ständig blamieren möchten, oder sich nicht zum wiederholten Mal die zahlreichen gut gemeinten Erziehungsratschläge anhören wollen. Bei schweren Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen, die lange Zeit unbehandelt bleiben, stehen Eltern und Kinder nicht selten auf einem regelrechten Trümmerhaufen ihrer schulischen und sozialen Situation.

Die Behandlung eines ADHS-Kindes
Wenn sich bei einem Kind der Verdacht auf eine Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ergibt, sollten die Eltern ihr Kind einem ADHS-erfahrenen Spezialisten vorstellen. Eine gründliche medizinische, neuropsychiatrische und psychologische Beurteilung ist wichtig, da auch seelische oder körperliche Erkrankungen ein ADHS-ähnliches Bild hervorrufen, oder andere Störungen gleichzeitig mit ADHS auftreten können.

Die Behandlung beinhaltet in der Regel die Kombination von mehreren Ansätzen:

  • Beratung und Aufklärung von Eltern, Kind und Schule oder Kindergarten;
  • Psychotherapie, Einzel- oder/und Familientherapie; – Medikamente;
  • Funktionelle Therapien und pädagogische Maßnahmen;
  • Weitere, z.B. diätetische Maßnahmen;

Geeignete Aufklärung über die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) für Eltern, Kind, Geschwister und Bezugspersonen (Kindergarten, Schule, Heim) ist der erste Schritt der Behandlung.

In der Familientherapie geht es um die Integration des Kindes in ein soziales Umfeld, in dem Aufmerksamkeit füreinander gepflegt wird und daher eine Beziehungskultur entsteht, in der sich alle sicher und geborgen fühlen können. Die häufig anzutreffende depressive Grundstimmung des Kindes und entsprechende Beziehungsmuster ändern sich in eine wachstumsfördernde Richtung.

Durch Verhaltensübungen allein oder in der Gruppe lernt das Kind seine Aufmerksamkeit zu steigern und seine Impulse besser zu kontrollieren. Auch Ergotherapie, Psychomotorik, Musiktherapie, therapeutisches Reiten oder spezielle Lernübungen sind dazu hilfreich und werden ergänzend eingesetzt (Funktionelle Therapien).

Eltern und Schule müssen in die Behandlung einbezogen werden. Für den Erfolg der Therapie ist wesentlich, dass sich die Bezugspersonen in der Schule und zu Hause absprechen und die gleichen Ziele anstreben. Auf diese Weise gelingt es auch, die den Kindern gestellten Aufgaben zu vereinfachen und die in sie gesetzten Erwartungen zu senken.

Bei der medikamentösen Behandlung werden Substanzen eingesetzt, die die Aufmerksamkeit und die Verhaltenskontrolle der ADHS-Kinder verbessern. Viele Eltern und Bezugspersonen haben Bedenken gegenüber der Verabreichung von Medikamenten an Kinder. Diese Bedenken sollten offen angesprochen und ausdiskutiert werden. Das Medikament, das sich an erster Stelle empfiehlt (Methylphenidat = Ritalin) ist ein anregendes Mittel, das die Aufmerksamkeit verbessert und bei ADHSKindern keine Suchtgefahr erzeugt. Die medikamentöse Therapie gehört in die Hand eines Arztes, der Erfahrung mit der Behandlung von ADHS-Kindern hat. Er wird Eltern und Kinder eingehend über Wirkung, Dosierung und Nebenwirkungen beraten. Die elterliche Unterstützung ist auch bei der Medikamentengabe und -einnahme unerlässlich. Das Medikament allein reicht in der Regel nicht; es wird immer mit psychotherapeutischen Verfahren und pädagogischen Hilfen kombiniert. Durch Kombinationsbehandlungen werden bei ADHS-Kindern zumeist gute Therapieerfolge erzielt.