Der Text stammt aus der Informationsbroschüre „Psychische Gesundheit – was ist das?“, Seite 37 bis 41, herausgegeben im Jahr 2009 von der Autonomen Provinz Bozen, Amt für Gesundheitssprengel (2. überarbeitete Auflage).

Gewohnheiten können Hilfen sein, doch Zwänge engen das Leben ein
Fast jeder kennt harmlose Formen des Zwangs aus seinem täglichen Leben. So erledigen wir gewisse Dinge immer nach demselben Muster. Das hilft, Zeit und Energie zu sparen und erleichtert die Bewältigung des Alltags. Angewohnheiten können aber so intensiv werden, dass sie durch den eigenen Willen nicht mehr gesteuert oder unterbrochen werden können. Dann drängen sie sich immer hartnäckiger auf und können das Leben zur Hölle machen. So gibt es Menschen, die gegen ihren Willen bestimmte Handlungen dauernd wiederholen müssen: Entweder kontrollieren sie unzählige Male, ob ihre Wohnungstür abgeschlossen ist, oder sie waschen sich täglich stundenlang die Hände, um sich vor Schmutz oder Keimen zu schützen. Andere werden von Gedanken gequält, die sie auch mit aller Kraft nicht unterdrücken können. Zum Beispiel löst bei einer jungen Mutter der Anblick eines Messers schlimmste Befürchtungen aus, sie könnte damit ihr kleines Kind oder sich selbst verletzen. Unter „Zwängen“ versteht man Vorstellungen oder Handlungen, die sich einer Person immer wieder aufdrängen.

Obwohl Betroffene diese Gedanken und Handlungen meistens als unsinnig erkennen, können sie sich gegen ihr Auftreten nicht wehren. Wenn sie versuchen, sich dem Zwang zu widersetzen, erleben sie zunehmende Spannung, Angst oder Ekel. Die Beklemmung nimmt erst ab, wenn sie dem Zwang nachgegeben haben. Dieser quälende Kreislauf plagt die Betroffenen sehr. Sie schämen sich, verbergen ihre Zwänge so lange wie möglich und nehmen dafür auch Vereinsamung und beruflichen Abstieg in Kauf. Sie halten sich für „verrückt bei klarem Verstand“, wie dies einer von ihnen ausgedrückt hat. Zwänge sind stärker als der Wille, sie lassen sich nicht unterdrücken.

Zwangsstörungen sind häufig und oft mit anderen psychischen Störungen kombiniert
Zwangserkrankungen betreffen 1 bis 2 Prozent aller Menschen. Damit stellen sie nach Angststörungen, Depressionen, psychosomatischen Störungen und Alkoholismus die fünfthäufigste psychische Störung weltweit dar. Männer erkranken etwas häufiger als Frauen. Die Hälfte der Betroffenen hat erste Anzeichen der Störung an sich bereits in der Kindheit beobachtet. Anderseits können Zwangsphänomene bei kleinen Kindern entwicklungsbedingt sein und nach einiger Zeit von selbst verschwinden. Üblicherweise vergehen Zwangsstörungen nicht mehr von alleine, wenn sie über die Pubertät hinaus andauern. Meist beginnen Zwangsstörungen im jungen Erwachsenenalter. Der Zwangskranke kann sein Verhalten und seine Ängste lange Zeit für normal halten, wenn er von der Gesellschaft anerkannte Zwänge ausführt, zum Beispiel auf seinem Arbeitsplatz peinlich genau kontrolliert, aufräumt oder einteilt. In anderen Fällen treten Zwänge plötzlich im Zusammenhang mit belastenden Ereignissen auf.

Zwei Drittel aller Zwangskranken entwickeln eine Depression. Am zweithäufigsten entsteht parallel zum Zwang eine Angststörung. Weitere Begleitkrankheiten der Zwangsstörung sind Alkohol- und Medikamentensucht oder psychosomatische Störungen. Unbehandelte Zwangsstörungen vergehen nicht von alleine. In vielen Fällen breitet sich die Störung auf immer neue Lebensbereiche aus.

Der Zwang hat zwei Gesichter: Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
Unter Zwangsgedanken versteht man ständig wiederkehrende Ideen, die sich dem Betroffenen gegen seinen Willen aufdrängen. Der Inhalt betrifft oft eine mögliche Gefahr (z.B. Gedanken, ob der Gasherd ausgeschaltet ist). Das Ausmaß ist übertrieben und beeinträchtigt immer stärker das alltägliche Leben (Jemand denkt so oft daran, dass er sich bei der Arbeit nicht mehr konzentrieren kann). Aber auch aggressive (Beschimpfen eines Vorgesetzten), religiöse (lautes Fluchen in der Kirche) oder sexuelle (Selbstbefriedigung in der Öffentlichkeit) Inhalte können im Vordergrund stehen. Sie werden als Qual erlebt und lösen die Befürchtung aus, dass sie sich tatsächlich ereignen könnten. Allerdings kommt es nie dazu: Zwangskranke sind Täter ohne Tat.

Zwangshandlungen sind Rituale, die trotz inneren Widerstandes der Betroffenen übertrieben häufig wiederholt werden müssen, um Ängste zu mindern, einen vermeintlichen Schaden zu verhindern oder nach selbst auferlegten Regeln alles richtig zu machen. Die häufigsten Zwangshandlungen sind ausgeprägtes Kontrollieren, Waschen, Zählen, Ordnen und Sammeln. Zwangsrituale nehmen sehr viel Zeit in Anspruch. Das Gefühl, „jetzt ist es genug“ stellt sich nur langsam ein und nach jeder Unterbrechung muss wieder von vorne begonnen werden.

Zwangshandlungen entwickeln sich oft infolge von Zwangsgedanken, etwa vielfache Kontrollen des Lichtschalters aus Angst vor einem Kurzschluss mit Brand. Sie können aber auch unabhängig von Zwangsgedanken auftreten.

Viele Zwänge treten nur in den eigenen vier Wänden auf. Nicht selten werden Angehörige in die Zwangsrituale einbezogen, etwa dadurch, dass erst ihre Versicherung, das Haus sei abgesperrt oder ein Zimmer sei sauber, den Zwang beendet. Was anfangs wie eine Abkürzung des Leidensweges aussieht, weitet in Wirklichkeit den Zwang aus.

Zwänge haben viele Gründe
Zwangsstörungen entstehen vermutlich durch ein Zusammenwirken verschiedener Ursachen. Erbliche Anteile bewirken, dass Zwänge in manchen Familien häufiger auftreten als in anderen. Bei Menschen mit Zwangsstörungen sind bestimmte Bereiche des Stirnhirns, die der geistigen Kontrolle dienen, besonders aktiv. Auch der Stoffwechsel einiger Botenstoffe im Gehirn ist verändert. Aber auch Erziehung, seelische Belastungssituationen und Schwierigkeiten in der Stressbewältigung spielen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Zwängen eine Rolle. Zwänge können als Versuche gesehen werden, starke Ängste zu bewältigen. Zum Beispiel kann die übertriebene Angst vor Verschmutzung durch wiederholtes Händewaschen „gebannt“ werden. Wenn dieses Verhalten zu einer raschen Linderung der Angst führt, wird es immer öfter ausgeführt. Ein Zwang wird „erlernt“. Von ihrer Persönlichkeit her sind Zwangskranke meist sehr sorgfältig, pflichtbewusst, ehrgeizig und genau. Sie unterdrücken ihre Aggressionen und wirken kontrolliert. Sie achten viel mehr auf ihre Pflichten als auf ihre Bedürfnisse.

Wer hilft?
Der Hausarzt sollte aufgesucht werden, wenn man nicht sicher ist, ob man an einer Zwangsstörung leidet. Psychotherapeuten (Psychologen oder Psychiater) sind die Fachleute, die Zwänge am gezieltesten behandeln können. Der Psychiater soll aufgesucht werden, wenn psychotherapeutische Verfahren allein nicht ausreichen, Begleiterkrankungen auftreten oder der Leidensdruck sehr groß ist. Angehörige können Betroffenen dadurch helfen, dass sie sie auf ihre zwanghaften Verhaltensweisen geduldig aufmerksam machen. Betroffene erkennen dann leichter, dass sie an einer ernst zu nehmenden Erkrankung leiden. Selbsthilfegruppen wirken der Vereinsamung entgegen, in die Menschen mit Zwangsstörung meist geraten. Im Kreis von Betroffenen ist es viel leichter, die Scham vor dem eigenen Leiden zu überwinden und Hilfe zu suchen.

Was hilft?
Leider verheimlichen Betroffene ihr Leiden im Durchschnitt zehn Jahre lang, bevor sie Hilfe suchen. Je kürzer eine Zwangsstörung dauert und je plötzlicher sie aufgetreten ist, desto größer sind die Heilungsaussichten. Mit Psychotherapie, antidepressiven Medikamenten und durch die Kombination beider Verfahren stehen sehr wirksame Behandlungsmöglichkeiten der Zwangsstörung zur Verfügung.

Im Rahmen einer Psychotherapie lernt der Betroffene die Zusammenhänge, die seine Störung verursachen und aufrecht erhalten, kennen. Er erwirbt Strategien, um seine unrealistischen Ängste abzubauen und erreicht Distanz zu seinen Zwängen („Das bin nicht ich, das ist mein Zwang“). Gleichzeitig fällt es ihm leichter, auf eigene Wünsche und Bedürfnisse zu achten, Pflichten und Anforderungen auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren. Von den vielen psychotherapeutischen Verfahren ist die Verhaltenstherapie bei Zwängen wissenschaftlich am besten untersucht. Für eine erfolgreiche Behandlung ist aber die Schulrichtung des Therapeuten nicht so wichtig. Viel bedeutsamer sind die Motivation des Betroffenen und eine gute, vertrauensvolle Beziehung zwischen Behandler und Behandeltem. Antidepressive Medikamente mindern die Befürchtungen, die den Zwang aufrechterhalten, und stärken die Betroffenen darin, sich gegen ihre Zwänge zu entscheiden. Die positive Wirkung tritt nach zwei bis drei Monaten ein. Bei Bedarf soll das Medikament regelmäßig, auch über Jahre, eingenommen werden. Antidepressiva sind bei 50% bis 70% der Menschen mit Zwangsstörung erfolgreich.

Aufnahmen an psychiatrischen Abteilungen oder an psychosomatischen Kliniken sind sinnvoll, wenn ambulante Behandlungen wenig erbracht haben. Die frühere Einschätzung, Zwangskrankheiten seien unheilbar, ist eindeutig falsch. Den meisten Betroffenen kann heute mit gezielten Verfahren sehr gut geholfen werden.