Der Text stammt aus der Informationsbroschüre „Psychische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter“, herausgegeben im Jahr 2014 vom Verband Ariadne und der Autonomen Provinz Bozen, Amt für Krankenhäuser unter der Mitarbeit von Veronika Hafner, Donatella Arcangeli, Luigi Basso, Irene Berti, Giovanni Cappello, Andreas Conca, Giulia Parolin, Roger Pycha und Georg Vallazza.

Störungen des Sozialverhaltens (dissosoziale Störungen)
Störungen des Sozialverhaltens ziehen sich meistens kontinuierlich von der frühen Kindheit über die Schulzeit bis ins Jugend- und Erwachsenenalter hin. Betroffene Kinder fallen durch ihr widerspenstiges, oppositionelles Verhalten auf. Sie sind aggressiv, streiten häufig, lügen oder stehlen und haben wenig Einfühlungsvermögen für andere Menschen oder generell für Lebewesen. Das ungewünschte Verhalten tritt in verschiedenen Situationen auf und über längere Zeit. Bei manchen Kindern kommt das dissoziale Verhalten in Gruppen (Gruppentyp) von Gleichaltrigen vor, bei manchen allein (Einzelgänger-Typ). Manche haben ein direktes offenes dissoziales Verhalten (sind direkt aggressiv, gehen auf Widerstand Erwachsenen gegenüber, haben Wutausbrüche, sind boshaft …), manche ein verstecktes, heimliches (sie lügen, zündeln heimlich, schwänzen die Schule …). Oft werden Aggressionen auf ein ganz bestimmtes Kind gerichtet. (Man spricht dann von Prügelknabe). Es gibt aber auch Kinder, die selbst aggressiv sind und gleichzeitig Opfer aggressiven Verhaltens werden. Manchmal geht es um Konkurrenz und um eine Verbesserung der eigenen Stellung in einer Gruppe. In diesem Zusammenhang wird auch von „mobbing“ und „bullying“ gesprochen, gemeint sind gezieltes Tyrannisieren, Schikanieren. Hier geht es oft um Macht.

Zwischen Jungen und Mädchen zeigen sich außerdem geschlechtsspezifische Unterschiede: Jungen bevorzugen direkte Aggressionsformen, Mädchen indirekte (sie schließen andere aus, schädigen den Ruf anderer …). In diesem Fall spricht man auch von Beziehungsaggression.

Komorbidität
Dissoziales Verhalten ist manchmal Ausdruck einer anderen zu Grunde liegenden Störung (z. B. ADHS oder Depression). Manche dissoziale Kinder sind zudem von einer Angststörung betroffen. Außerdem folgt bei Jugendlichen nicht selten ein regelmäßiger Alkohol- und Drogenkonsum.

Diagnostik
Für eine genaue Diagnostik sind mehrere Perspektiven der Beurteilung notwendig: zu Hause, in der Schule, in der Freizeit. Es braucht die Einschätzung der Kinder selbst, ihrer Mitschüler/innen, der Lehrerinnen und Lehrer, der Eltern und externer Beobachter. Von großer Bedeutung ist die Klärung, ob es sich auch um ein Hyperaktivitätssyndrom handelt und ob das Kind zudem kognitive Schwierigkeiten hat, die sich auf den Umgang mit Konfliktsituationen und auf die Lösungsstrategien auswirken. Weiters spielen der familiäre Kontext eine Rolle sowie die Auslöser für das aggressive Verhalten.

Erklärungsansätze
Aus Zwillings- und Adoptionsstudien kann man entnehmen, dass es einen genetischen Einfluss in Bezug auf die Tendenz zu erhöhter Aggression gibt. Gemäß einem biopsychosozialen Modell haben das Temperament des Kindes, die familiäre Situation, die schulische Entwicklung sowie die Beziehung zur Gruppe der Gleichaltrigen Einfluss auf die Entwicklung eines dissozialen Verhaltens. Dazu kommen noch gesellschaftliche und soziokulturelle Faktoren. Negative Folgen haben Gewalt und körperliche Misshandlung durch die Eltern. Wie die Kinder mit ihrem Ärger umgehen und diesen regulieren, hängt wesentlich damit zusammen, ob es den Eltern gelingt, eine positive Beziehung zu ihnen aufzubauen, ihnen notwendige Grenzen zu setzen und doch Freiraum zu gewähren.

Sozialisationseinflüsse

Peergroups
Das Zusammenschließen aggressiver Kinder zur Gruppe bringt eine weitere Verstärkung ihres negativen Verhaltens mit sich. Die Verantwortung für das aggressive Tun wird dann vom Einzelnen auf die Gruppe übertragen. Dadurch werden die Hemmungen geringer. Manche werden durch den Gruppenprozess zu Mitläufern.

Die Schule
Aggressives Verhalten tritt sehr oft im Schulhof in den Pausezeiten auf. Lehrer/innen intervenieren oft nicht aus Hilflosigkeit oder Resignation, was problematische Folgen hat und die Schule zu einem unsicheren Ort macht. Weitere Einflüsse schulischer Faktoren auf aggressives Verhalten der Schüler/innen untereinander sind: Disziplinprobleme, Unterforderung, Langeweile, ungünstiges Schulklima …

Weitere gesellschaftliche Einflüsse
Gewaltdarstellungen in den Medien (Fernsehen, Video-Filme, PC-Spiele …) haben negative Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche mit dissozialem Verhalten.

Prävention und Intervention
Nach Snyder und Patterson gibt es drei wichtige Faktoren für die Prävention von dissozialem Verhalten:
• Disziplinmaßnahmen (gezielte Hemmung und Hinderung von unerwünschtem Verhalten, Verstärkung von positiven Verhaltensweisen)
• förderndes Erziehungsverhalten (gewünschtes Verhalten benennen und positives Feedback dazu geben, Interesse am Entwicklungsweg des Kindes zeigen, es unterstützen, gemeinsame, positive Erlebnisse gestalten)
• Informiertheit und Aufsicht der Eltern (Eltern sollten über die Aufenthaltsorte, über die Freunde/Freundinnen der Kinder, ihre Fernseh- und Kinothemen Bescheid wissen, ebenso über den Schulbesuch).

Mittlerweile wurden verschiedene Programme der Intervention und der Prävention erprobt. Im Vorschulalter versucht man vorwiegend mit den Eltern zu arbeiten, ab dem Schulalter zudem auch mit den Kindern selbst. Abgeraten wird davon, dass man mehrere Kinder mit aggressivem Verhalten in eine Kleingruppe zusammenlegt, da das negative Verhalten durch die gegenseitige Beeinflussung verstärkt wird.

Kazdin nennt vier Interventionsansätze:
– das kognitive Problemlösungstraining
– das Eltern-Training
– die funktionale Familientherapie
– die multisystemische Therapie

Diese Ansätze arbeiten mit Rollenspielen oder mit vorsichtiger Veränderung der Beziehungsmuster in der Familie.

Interventionsmöglichkeiten der Schule
Nach einem Programm von Olweus, das an norwegischen Schulen erprobt wurde, wird den Schülern/Schülerinnen in Zusammenarbeit zwischen Lehrern/Lehrerinnen und Eltern nahe gelegt, aggressives Verhalten zu vermeiden und sich konstruktives Verhalten anzueignen. Zum Programm gehören:

– der Aufbau einer guten Beziehung zwischen Lehrern/Lehrerinnen und Schülern/Schülerinnen
– klare Vermeidung von aggressivem Verhalten an der Schule
– Aufsicht und Kontrolle zur Verhinderung aggressiven Verhaltens

Lehrer/innen, Eltern und Schüler/innen erhalten außerdem aufklärende Informationen über aggressives Verhalten sowie über die Situation der Opfer. Die Pausezeiten sollten so gestaltet werden, dass die Schüler/innen sich erholen können. Weiters sollte es eine Anlaufstelle geben, wo Schüler/innen und Eltern in Problemsituationen Ansprechpersonen finden und Hilfestellungen bekommen.

Mögliche Maßnahmen:
– Lehrer/innen und Schüler/innen stellen gemeinsame Regeln gegen aggressives Verhalten auf und sorgen dafür, dass diese eingehalten werden.
– Sie führen regelmäßig Gespräche über kritische Situationen.
– Sie lernen Methoden zur besseren Zusammenarbeit kennen,
– ebenso Strategien zur konstruktiven Konfliktverarbeitung (Erprobung über Rollenspiele).
– Es werden gemeinsame positive Erlebnisse zur Förderung und Stärkung
der Klassengemeinschaft organisiert.

Weiters sollten Lehrer/innen auch zu einzelnen Schülern/Schülerinnen Gespräche suchen, zu Tätern wie zu Opfern. Lösungsvorschläge für eine Wiedergutmachung können gemeinsam erarbeitet werden. Auch nicht betroffene Mitschüler/innen können dabei Unterstützung bieten. Entscheidend für den Erfolg sind das Engagement der Lehrpersonen, die Unterstützung seitens der Direktorin/des Direktors, gründliche Durchführung der Programme sowie entsprechende Supervision.